Wer ist man jenseits einer Rolle? Wenn einen das, was man einmal war, nicht mehr definiert?

Menschen bewegen sich in Rollen durch ihren Alltag, kaum anders als Schauspieler*innen über die Bühne. Und es sind viele Rollen und Bilder zu erfüllen. Geschlechterrollen, soziale Rollen, berufliche Rollen. Viele prägen gut sichtbar das Äußere, es gibt Kostüme, zu denen bestimmte Frisuren, teure Anzüge oder professionell manikürte Nägel gehören, Wohnstile, die Wahl des Sports, technische Accessoires oder bestimmte Sprechweisen. Und all diese Rollen prägen auch das Innere.

Einmal in der Rolle, teilen wir die dazugehörigen Wertvorstellungen, werden, was wir scheinen, weil wir angenommen werden, Teil eines Stammes sein wollen. Wir identifizieren uns. Und das macht Veränderung so schwer. Wenn ich einen renommierten Job kündige, in dem ich leide, bin ich vielleicht keine Person mit einem interessanten Beruf mehr. Wenn ich mich nach Jahrzehnten von einem Partner trenne, mit dem mich nichts Vitales mehr verbindet, bin ich plötzlich Single und an Weihnachten vielleicht allein. Und auch dies: Wenn ich anfange, meine Probleme zu lösen, riskiere ich, aus der Fürsorge meiner Umwelt zu fallen – und woher bekomme ich dann Aufmerksamkeit für meine Person?

Manchmal sind die Rollen so eng, dass es schmerzt

Selbst wenn die Rollen, in denen man sein Leben führt, eng geworden sind, manchmal so eng, dass es schmerzt, weiß man in ihnen doch, wer die Mitspielenden sind, wann man auf welche Bühne zu kommen hat und was dort von wem zu sagen ist. Diese Sicherheit ist vielen so viel wert, dass sie am Skript festhalten und sich damit zufrieden geben, von all dem, was ihrer Seele fehlt, nur zu träumen – sei es beim Seriengucken, auf Instagram oder in Cowboystiefeln zum Büro-Outfit. Man sucht allenfalls nach einer anderen Bühne, auf der das bisherige Stück nur minimal verändert weiter aufgeführt werden kann: Ein anderer Job in der gleichen Branche, ein anderer, genauso unselbständiger Mann. Warum? Weil man sonst schlicht nicht mehr weiß, wer man ist.

Aber – wer IST man denn jenseits der Rollen? Was ist das Ureigene an einer Person, wer ist man ohne äußere Merkmale, Aufgaben, Credits und Fleißbienchen? Wer ist man, wenn man nicht mehr ist, wer man war?

Im Theater gehen die Schauspieler*innen von der Bühne ab in die Garderobe, ziehen das Kostüm aus und schminken sich ab, bevor sie am nächsten Tag wiederkommen und in einem neuen Stück auftreten. Die Zeit zwischen dem Abschminken und dem Auftragen der nächsten Maske, ist für sie die vielleicht größte Herausforderung ihres Berufs. Die Phase, in der sie nach Hause fahren, in der Straßenbahn von niemandem erkannt werden und in ihre stille Wohnung kommen. Viele bleiben daher gern in der Kantine sitzen, weil ihnen da die anderen versichern, wer sie eben noch waren und morgen wieder sein werden.

In der Stille zwischen den Auftritten kommt man sich selbst näher

Die Stille jenseits des Geregelten, Erwarteten, Bestätigten, ohne Skript, Ensemble und Publikum ist der Ort, an dem man sich sich selbst am nächsten ist. Der leere Raum. Die, die ihn suchen, brauchen dafür vielleicht 40 Tage in der Wüste oder eine komplette Änderung ihrer Lebensumstände. Zu finden ist er in jedem Fall im Inneren, im eigenen Herzen. Und dass viele Menschen erst einmal Schmerz spüren, wenn sie sich auf ihr Herz konzentrieren, ist kein Widerspruch. Das, was man IST, liegt oft unter dicken Schichten von Schmerz und regulierenden Konditionierungen. Dieser Schmerz muss heraus ans Licht, um seine Macht zu verlieren. Und dann werden auch die schönen Gefühle wieder frei.

Vielleicht hast du nach einer Kündigung, einer Trennung, in einer Krankheit oder in einer sonstigen verstörenden Situation schon erlebt, dass du nach dem ersten inneren Drama auch Zeiten hast, in denen zu dich vollkommen wohl fühlst, ja frei und angenehm anders. Dann aber fällt dir das Verlorene oder die neue Situation wieder ein, und der Schmerz kommt zurück. Dieses Hin und Her zwischen dem Leben im Moment, dem Erleben des Moments, und den Beschränkungen im Kopf ist sehr wertvoll, denn da merkst du, wie du deine Gefühle bereits selbst steuerst. Jetzt darfst du dir nur noch erlauben, die Gedanken an das, was war und auch die damit verbundene Rolle loszulassen … nicht mehr anzuhaften, wie man im Buddhismus sagt. Sondern im Augenblick und im Herzen zu bleiben.

Entscheide dich für das Hier und Jetzt

Ja, du warst eine Person die dies und das dargestellt oder verkörpert oder erlebt hat. Aber das ist vorbei. Wer bist du jetzt? Was hörst und siehst du, was riechst du, was fühlst du unter deinen Händen, zu was hättest du jetzt Lust? So klein muss man anfangen, um sich neu zu erfahren, um festzustellen, was echte Erfahrung ist und was nur ein schmerzlicher Gedanke.

Und dann gewöhnt man sich natürlich an die neue Situation und findet in neue Rollen, so ist das Leben. Im Idealfall sind es Rollen, die besser zu einem passen, luftiger, vielfältiger und freudvoller sind. Genieße sie, aber bleibe wachsam, identifiziere dich nicht aufs Neue vollkommen damit, sondern übe, dich und deine Umwelt weiter unvoreingenommen und mit Neugier zu erforschen.

Etwa, indem du dich bei Begegnungen ohne Ansehen der Person und der Umstände stets ehrlich fragst, welchen Austausch du wirklich wünschst. Und indem du nur Entscheidungen triffst, die deine Welt im Hier und Jetzt reicher und offener machen. Und plane nicht so viel. Entwicklung ist ja nicht linear, sondern baut auf dem auf, was ist. Und sich jetzt zu quälen, damit es nachher schön wird, ist eine Rechnung, die nicht aufgeht. Es gibt ja auch kein vorgegebenes Ziel, sofern man sich von Konditionierungen befreit hat. Es gibt nur den inneren Kompass, der den jeweils nächsten Schritt anzeigt, was immer es dort, wo er hinführt, zu erleben geben mag.

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