Hast du dich heute schon geärgert? Das ist gut. Denn das gibt dir Gelegenheit zu einem Schritt nach vorn: Gehe die Situation in Gedanken noch einmal durch – aber nicht, um den Ärger zu erneuern, sondern um sein Muster zu betrachten und zu nutzen. Selten bist du deinen Bedürfnissen so nah wie im Ärger. Funktioniert die Familie nicht so wie sie soll? Interpretierst du einen Kommentar zu deiner Arbeit als Absicht, dich persönlich zu vernichten? Sind es die Nachrichten, die Vermieterin, das Wetter, der Workload, die Welt, die dich aus der Fassung bringen? Was genau daran?
Versuche doch einmal, in einen allgemeinen Satz zu fassen, was das Ärgerliche in deinem Leben bewirkt.
- Die Kollegin hat dir bestimmte Informationen nicht weitergeleitet? Lass ihre möglichen Motive mal völlig außer Acht und bleibe dabei, was für dich daraus resultiert: Du bekommst nicht, was du brauchst. – „Ich bekomme nicht, was ich brauche.“ Ist das etwas Generelles? Wie fühlt sich das an?
- Die Mieterhöhung ist zwar legitim und zu leisten, aber ärgert dich dennoch maßlos? – Würdest du sagen: „Ich muss immer zuviel geben“?
- Jemand hat dir die Vorfahrt genommen. Das passiert mal, und du solltest dich feiern, dass du es gemerkt hast! Wenn es dich aber noch drei Straßen weiter ärgert, stellt sich die Frage, ob du dich auch in anderen Dingen übergangen fühlst.
Beim Ärgern geht es meist um mehr als eine einzelne Situation. Und nie darum, dass jemand an etwas „schuld“ wäre – weder andere noch du selbst. Im Ärger formuliert sich vielmehr die Verzweiflung über einen systemischen Mangel, oder ein sonst blinder Fleck wird sichtbar.
Welche Ärger-Brille trägst du?
Wenn du dir den einzelnen Ärger in Ruhe anschaust, erkennst du die jeweilige Brille, die du dabei getragen hast und die deinen Blick gerahmt hat. Im Grunde ist es nicht anders als im Falle von Eifersucht. Wer den Verdacht hat, eifersüchtig sein zu müssen, wird durch seine Brille des Misstrauens zahlreiche Belege dafür entdecken, die ein anderer kaum der Rede wert fände.
Welche Brille trägst du, wenn du dich darüber ärgerst, dass die Nachbarn schon wieder zu einer Fernreise aufbrechen und dich bitten, ab und zu die Blumen zu gießen? Die mit dem Rahmen des Zukurzkommens? Unter deinen abwertenden Gedanken über die neuerliche Thailand-Tour (Von „Naja, die haben ja keine Kinder und wissen ja sonst nicht, wohin mit dem Geld!“ bis „Fernreisen sind Klimamord.“) liegen vielleicht die schmerzlichen Fragen: Wann habe ich zuletzt etwas für mich getan? Und wer hat mich dabei unterstützt?
Wobei ich nicht sagen will, dass es keine Situationen gäbe, die nicht okay wären. Aber es gibt stets Möglichkeiten, in der Ruhe zu bleiben und sinnvoll zu intervenieren: Nachfragen, Neinsagen, Durchwinken, Entscheidungen treffen. Ärger jedoch ist weitgehend irrational. Er basiert auf Ohnmachtsgefühlen, gegen die man revoltiert, und dies in einer Weise, die dem Alter entspricht, in dem sie entstanden sind – meist in der Kindheit.
Wie wäre es mit einem Mensch-ärgere-dich-Tagebuch?
Wenn du deinem täglichen Ärger auf die Schliche kommen willst, könntest du ein Mensch-ärgere-dich-Tagebuch führen und darin die einzelnen Situationen notieren – sowie die Muster, auf die sie hinweisen. Ersetze dazu alles Spezifische durch allgemeine Begriffe. Es kann gut sein, dass schon das genügt, um deinen Alltag deutlich entspannter werden zu lassen, weil aufkommender Ärger durch deinen sich entwickelnden Meta-Blick quasi von selbst moderiert wird: Aha, das ist ja schon wieder ein xy-Moment …
Dabei beginnst du dich vielleicht bald zu fragen, wie man solche Gedankenmuster – nicht zu genügen, sich zur Verfügung stellen zu müssen, immer der Letzte oder die Verantwortliche zu sein etc. – denn prinzipiell auflösen und durch etwas Erfreulicheres ersetzen könnte. Das kann ich dir beantworten.
Aber fang mal mit der strukturierten Selbstbeobachtung an. Schon damit übernimmst du in entscheidender Weise Verantwortung für dich und kommst aus der Opferrolle. Klingt anstrengend? Ja, das ist es auch ein bisschen. Aber bei weitem nicht so anstrengend, wie der tägliche Ärger über Kleinigkeiten. Und befreiend – übrigens auch für alle anderen in deiner Umgebung.
Foto von Peggychoucair auf Pixabay

