Was in der energetischen Praxis anfangs schwer zu verstehen ist, ist der Unterschied zwischen Gedanken und Gefühlen. „Ich bin allein“, „Ich werde nicht gesehen“, „Ich werde enttäuscht“ – wenn ich auf solche betrübte Bestandsaufnahmen sage: „Das ist nur ein Gedanke“, ernte ich selten direkt die Erleichterung, die in der Verschiebung der Perspektive liegen könnte. Kaum jemand sagt gleich: „Ach so? Na dann denke ich jetzt doch mal etwas anderes!“ Vielmehr regt sich Widerstand: „Ja, das ist ein Gedanke, aber zu dem gehört ein Gefühl! Und was soll das überhaupt heißen: NUR ein Gedanke! Es IST nunmal so: Ich bin allein! Ich habe niemanden, mit dem ich in den Urlaub fahren könnte. Ich verbringe alle Wochenenden allein.“
Tatsächlich gehören zu den Gedanken natürlich Gefühle. Die sind: Traurigkeit, Einsamkeit, Schmerz. Diese Gefühle sind real. Sie wollen und sie müssen gefühlt werden. Aber sie resultieren nicht aus irgendwelchen alltäglichen Umständen. Sie sind viel älter, und sie sind es, aus denen die Umstände resultieren, nicht umgekehrt. Wie das?
Ein Kind fühlt sich schuldig, wenn ihm etwas fehlt
Ein Kind, das vernachlässigt wird, kann das nicht als Fehler seiner Eltern wahrnehmen, sondern wird es als eigenes Versagen deuten. Es nimmt die Umstände hin, wie sie sind, und versucht, sich einen Reim darauf zu machen. „Da sie sich nicht um mich kümmern, bin ich es wohl nicht wert“ – wird die Schlussfolgerung sein. Und dann wird das Kind versuchen, für die Eltern oder andere Bezugspersonen doch irgendwie wertvoll zu werden, damit diese es bemerken und ernähren und schützen und nicht von diesem Erdball schubsen. Sei es durch Gefälligkeit, Leistung oder durch Krankheit.
Und wozu führt die tiefe Überzeugung es nicht wert zu sein? Wie verhält sich jemand, der ganz tief davon überzeugt ist, weniger wert zu sein als andere? Er (oder sie) hält sich zurück, ist vorsichtig, ja hat die eigenen Bedürfnisse als erwachsener Mensch womöglich schon völlig vergessen und strebt nur danach, die vermuteten Erwartungen anderer zu erfüllen.
Gleichzeitig regt sich im Inneren – glücklicherweise – irgendwann Widerstand gegen diese Fremdorientierung: Die Person wird sich zunehmend dessen bewusst, dass es in ihren Beziehungen nicht um sie selbst, sondern stets um die anderen geht und sie „nicht gesehen“ wird. Und sie wird wütend werden und traurig, die Traurigkeit aber auf dem Umstand zurückführen, dass die anderen ihr etwas vorenthalten. Dabei reagieren diese anderen nur darauf, was sie ihnen anbietet, und das ist das immergleiche Szenario von Einseitigkeit, das dieser Person zum Maß von Beziehung geworden ist und das sie sich wieder und wieder inszeniert.
Alles, was man denkt, könnte man auch anders denken
Tatsächlich liegen in Wahrnehmungen wie „Ich bin allein“ oder „Ich werde nicht gesehen“ stets Bewertungen von Situationen, die auch anders interpretiert oder gestaltet werden könnten. Dies anzuerkennen, macht die Sache für die Betroffenen nicht angenehmer. Sogar im Gegenteil, da es ein Verlust von Krankheitsgewinn, von Opfertum ist, wenn man auf die eigene Verantwortung, die eigene Gestaltung hingewiesen wird. Dennoch öffnet erst diese Wahrnehmungsverschiebung den Weg zur Wahrheit über das eigene Gefühl.
Und die ist: Gedanken sind Ausdruck von Gefühlen, nicht ihre Ursache. Umstände können nur triggern, was auf tiefer Ebene als Blaupause schon da ist. Aber wenn der Schmerz dort gesehen und erlöst wird, wo er entstanden ist, im emotionalen Keller der Person, im Untergeschoss des Daseins sozusagen, dann wird das erst die Wahrnehmung und schließlich die Erfahrung in den höheren Ebenen verändern. Nämlich öffnen, befreien, beflügeln.
In welcher Hinsicht fühlst du dich als Opfer?
Ich bleibe also dabei: Bewertungen der eigenen Umstände sind – okay, nicht „nur“, aber zunächst Gedanken. Sie weisen den Weg zur eigenen Weltwahrnehmung und zur wirklichen Ursache des Schmerzes. Wo siehst du dich als Opfer von Umständen? Was ist deine wiederkehrende schmerzliche Erfahrung im Umgang mit anderen? Willst du wissen, was du für dich erreichen kannst, wenn du die Kraft aufbringst, deinen Gedanken und Gefühlen auf den Grund zu gehen?
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